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Der '''Chor''' in der Filmmusik gehört in den meisten Fällen zur [[Diegetische Musik|extradiegetischen Musik]] und hat sehr oft keinen Text.
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Der '''Chor''' in der Filmmusik gehört in den meisten Fällen zur [[Diegetische Musik|extradiegetischen Musik]] und hat sehr oft keinen Text.  
  
Die frühe Filmmusik war stark von Richard Wagners Musikdrama beeinflusst, der das Orchester als Erneuerung des kommentierenden Chors in der altgriechischen Tragödie betrachtete. Damit übernahm er Vorstellungen von einer «stummen Sprache» der Musik, wie sie im 19. Jahrhundert formuliert worden sind.  
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Die frühe Filmmusik war stark von Richard Wagners Musikdrama beeinflusst, der das Orchester als Erneuerung des kommentierenden Chors in der altgriechischen Tragödie betrachtete (''Oper und Drama'' 1852, Kap. 25). Damit übernahm er Vorstellungen von einer wortlosen Sprache der Musik, wie sie im 19. Jahrhundert etwa von E. T. A. Hoffmann formuliert worden sind.  
  
In der Filmmusik der Hollywood-Ära (und dann wieder für «New Hollywood» seit den 1970er-Jahren) wird das Orchester in pathetischen Momenten oft durch einen textlosen Vokalisenchor ergänzt, der ein Bindeglied zwischen den Menschenstimmen der Dialoge oder Erzählstimmen, dem Stimmengewirr öffentlicher Schauplätze und den «sprachlosen» Stimmen der Musikinstrumente bildet. In Science-Fiction-Filmen ist ein Vokalisenchor häufig ein Symbol für das Grenzenlose.  
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In der Filmmusik der Hollywood-Ära (und dann wieder für «New Hollywood» seit den 1970er-Jahren) wird das Orchester in pathetischen Momenten oft durch einen textlosen Vokalisenchor ergänzt, der ein Bindeglied zwischen den Menschenstimmen der Dialoge oder Erzählstimmen, dem Stimmengewirr öffentlicher Schauplätze und den «sprachlosen» Stimmen der Musikinstrumente bildet. In Science-Fiction-Filmen ist ein Vokalisenchor häufig ein Symbol für das Grenzenlose. Die Textlosigkeit lässt offen, ob es sich um «eigene» Stimmen (als Identifikationsangebot für die mitsummenden oder sich an einen Gesangstext erinnernden Zuschauer) oder um «fremde», unheimliche Stimmen handelt.  
  
Wenn ein Chor Texte singt, sind sie oft als Identifikationsangebot für den «Chor» der Filmzuschauer gedacht, sollen zum Mitsingen animieren und haben dadurch eine naive Wirkung. [[Jingle]]s bestanden ursprünglich aus Chören.
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Wenn ein Chor Texte singt, sind sie oft als Identifikationsangebot für den «Chor» der Filmzuschauer gedacht, sollen zum Mitsingen animieren wie einst im [[Vaudeville]] und haben dadurch eine naive Wirkung. [[Jingle]]s bestanden ursprünglich aus Chören.
  
 
Mit den Möglichkeiten der digitalen Klangverarbeitung können Stimmenchöre erzeugt werden, die sich im Grenzbereich zwischen Menschenstimmen, Instrumentalstimmen und Geräuschen befinden.
 
Mit den Möglichkeiten der digitalen Klangverarbeitung können Stimmenchöre erzeugt werden, die sich im Grenzbereich zwischen Menschenstimmen, Instrumentalstimmen und Geräuschen befinden.
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Die wissenschaftliche Literatur über Chöre im Film befasst sich hauptsächlich mit Chören, die im Film sichtbar sind (siehe Maas 2014).
  
 
== Schweizer Filmmusik ==
 
== Schweizer Filmmusik ==
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Anklänge an die Barbershop-Singweise (vierstimmige Harmonie in enger Lage und zumeist syllabischem Gesang), die in den USA einen Übergang zwischen [[Vaudeville]]-Theatern und früher Filmmusik bildete, finden sich in europäisierter Nachahmung auch in der Schweizer Filmmusik wieder, so im kommentierenden Chor zu ''[[Jim et Jo détectives]]'' (1943) von [[Jean Binet]].
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Mit dem Vokalisenchor im Animationsfilm ''[[Précision Longines]]'' (1952) zitiert [[Hans Vogt]] ein Symbol für die Grenzenlosigkeit des Weltalls. [[Alphonse Roy]] kreierte für ''[[L’inconnu de Shandigor]]'' (1967) einen Science-Fiction-Chor, der eine mysteriöse Spannung schafft. Einen modernen Chor ohne Text hat [[André-Daniel Meylan]] für die letzten Einstellungen von ''[[La nébuleuse du coeur]]'' (2005) geschaffen: Dem Thema des Films entsprechend, handelt es sich um einen Totentanz, verstärkt durch das Vanitasmotiv des Spiegels oder Echos, weil der Komponist hier mit sich selbst im Chor singt. Die Tanzform des Walzers lässt das Ende des Films dennoch versöhnlich erscheinen.
 
Mit dem Vokalisenchor im Animationsfilm ''[[Précision Longines]]'' (1952) zitiert [[Hans Vogt]] ein Symbol für die Grenzenlosigkeit des Weltalls. [[Alphonse Roy]] kreierte für ''[[L’inconnu de Shandigor]]'' (1967) einen Science-Fiction-Chor, der eine mysteriöse Spannung schafft. Einen modernen Chor ohne Text hat [[André-Daniel Meylan]] für die letzten Einstellungen von ''[[La nébuleuse du coeur]]'' (2005) geschaffen: Dem Thema des Films entsprechend, handelt es sich um einen Totentanz, verstärkt durch das Vanitasmotiv des Spiegels oder Echos, weil der Komponist hier mit sich selbst im Chor singt. Die Tanzform des Walzers lässt das Ende des Films dennoch versöhnlich erscheinen.
  
Der Text des Chors von [[Walter Wild]] in ''[[Kampf dem Hunger]]'' (1941) fordert die Schweizer Bevölkerung zu Identifikation auf. [[Jean Binet]]s Chor am Ende von ''[[Jim et Jo détectives]]'' (1943) übernimmt mit seinem Text die Funktion des «Filmerklärers» aus der Zeit des frühen Stummfilms und soll die Zuschauer zum Mitgefühl mit den Filmfiguren bewegen. [[Robert Blum]] integrierte in die [[Ouverture]] von ''[[Heidi und Peter]]'' (1955) zunächst einen Chor ohne Text, der die «grenzenlose» Schweizer Landschaft charakterisiert, und am Ende einen textierten Chor im konkreten Raum des Klassenzimmers. [[Walter Baumgartner]]s teilweise textierter Chor in seiner Titelmusik für ''[[Oberstadtgass]]'' (1957) soll es den Zuschauern ermöglichen, sich in das Milieu des Films einzustimmen. Als Werbelied für ''[[Ernst-Teigwaren]]'' seit den 1960er-Jahren hat [[Tibor Kasics]] einen Chor geschrieben, der zum Mitsingen animieren und dabei ein Produkt sympathisch machen sollte. (''Autor: Mathias Spohr'')
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Der Text des Chors von [[Walter Wild]] in ''[[Kampf dem Hunger]]'' (1941) fordert die Schweizer Bevölkerung zu Identifikation auf. [[Jean Binet]]s Chor am Ende von ''[[Jim et Jo détectives]]'' (1943) übernimmt mit seinem Text die Funktion des «Filmerklärers» aus der Zeit des frühen Stummfilms und soll die Zuschauer zum Mitgefühl mit den Filmfiguren bewegen. [[Robert Blum]] integrierte in die [[Ouverture]] von ''[[Heidi und Peter]]'' (1955) zunächst einen Chor ohne Text, der die «grenzenlose» Schweizer Landschaft charakterisiert, und am Ende einen textierten Chor im konkreten Raum des Klassenzimmers. [[Walter Baumgartner]]s teilweise textierter Chor in seiner Titelmusik für ''[[Oberstadtgass]]'' (1957) soll es den Zuschauern ermöglichen, sich in das Milieu des Films einzustimmen. Als Werbelied für ''[[Ernst-Teigwaren]]'' seit den 1960er-Jahren hat [[Tibor Kasics]] einen Chor geschrieben, der zum Mitsingen animieren und dabei ein Produkt sympathisch machen sollte. Der lateinisch textierte Chor von [[Adrian Frutiger]] in ''[[Sennentuntschi]]'' (2010) schafft dagegen mit «fremden» Stimmen eine Atmosphäre des Unheimlichen. (''Autor: Mathias Spohr'')
  
 
== Literatur ==
 
== Literatur ==
 
*Mathias Spohr: «Filmmusik», in: Daniel Brandenburg, Rainer Franke, Anno Mungen (Hg.): ''Das Wagner-Lexikon'', Laaber: Laaber 2012, S. 217–219. ISBN 978-3890075501
 
*Mathias Spohr: «Filmmusik», in: Daniel Brandenburg, Rainer Franke, Anno Mungen (Hg.): ''Das Wagner-Lexikon'', Laaber: Laaber 2012, S. 217–219. ISBN 978-3890075501
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*Susanne Maas: ''Chöre im Spielfilm'', Berlin: Lit 2014. ISBN 978-3-643-12600-9
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== Weblinks ==
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*[http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=8727 Chorfilm / Chöre im Film im ''Lexikon der Filmbegriffe'']
  
 
[[Category:Technical terminology]]
 
[[Category:Technical terminology]]

Revision as of 14:43, 15 December 2020

Der Chor in der Filmmusik gehört in den meisten Fällen zur extradiegetischen Musik und hat sehr oft keinen Text.

Die frühe Filmmusik war stark von Richard Wagners Musikdrama beeinflusst, der das Orchester als Erneuerung des kommentierenden Chors in der altgriechischen Tragödie betrachtete (Oper und Drama 1852, Kap. 25). Damit übernahm er Vorstellungen von einer wortlosen Sprache der Musik, wie sie im 19. Jahrhundert etwa von E. T. A. Hoffmann formuliert worden sind.

In der Filmmusik der Hollywood-Ära (und dann wieder für «New Hollywood» seit den 1970er-Jahren) wird das Orchester in pathetischen Momenten oft durch einen textlosen Vokalisenchor ergänzt, der ein Bindeglied zwischen den Menschenstimmen der Dialoge oder Erzählstimmen, dem Stimmengewirr öffentlicher Schauplätze und den «sprachlosen» Stimmen der Musikinstrumente bildet. In Science-Fiction-Filmen ist ein Vokalisenchor häufig ein Symbol für das Grenzenlose. Die Textlosigkeit lässt offen, ob es sich um «eigene» Stimmen (als Identifikationsangebot für die mitsummenden oder sich an einen Gesangstext erinnernden Zuschauer) oder um «fremde», unheimliche Stimmen handelt.

Wenn ein Chor Texte singt, sind sie oft als Identifikationsangebot für den «Chor» der Filmzuschauer gedacht, sollen zum Mitsingen animieren wie einst im Vaudeville und haben dadurch eine naive Wirkung. Jingles bestanden ursprünglich aus Chören.

Mit den Möglichkeiten der digitalen Klangverarbeitung können Stimmenchöre erzeugt werden, die sich im Grenzbereich zwischen Menschenstimmen, Instrumentalstimmen und Geräuschen befinden.

Die wissenschaftliche Literatur über Chöre im Film befasst sich hauptsächlich mit Chören, die im Film sichtbar sind (siehe Maas 2014).

Schweizer Filmmusik

Anklänge an die Barbershop-Singweise (vierstimmige Harmonie in enger Lage und zumeist syllabischem Gesang), die in den USA einen Übergang zwischen Vaudeville-Theatern und früher Filmmusik bildete, finden sich in europäisierter Nachahmung auch in der Schweizer Filmmusik wieder, so im kommentierenden Chor zu Jim et Jo détectives (1943) von Jean Binet.

Mit dem Vokalisenchor im Animationsfilm Précision Longines (1952) zitiert Hans Vogt ein Symbol für die Grenzenlosigkeit des Weltalls. Alphonse Roy kreierte für L’inconnu de Shandigor (1967) einen Science-Fiction-Chor, der eine mysteriöse Spannung schafft. Einen modernen Chor ohne Text hat André-Daniel Meylan für die letzten Einstellungen von La nébuleuse du coeur (2005) geschaffen: Dem Thema des Films entsprechend, handelt es sich um einen Totentanz, verstärkt durch das Vanitasmotiv des Spiegels oder Echos, weil der Komponist hier mit sich selbst im Chor singt. Die Tanzform des Walzers lässt das Ende des Films dennoch versöhnlich erscheinen.

Der Text des Chors von Walter Wild in Kampf dem Hunger (1941) fordert die Schweizer Bevölkerung zu Identifikation auf. Jean Binets Chor am Ende von Jim et Jo détectives (1943) übernimmt mit seinem Text die Funktion des «Filmerklärers» aus der Zeit des frühen Stummfilms und soll die Zuschauer zum Mitgefühl mit den Filmfiguren bewegen. Robert Blum integrierte in die Ouverture von Heidi und Peter (1955) zunächst einen Chor ohne Text, der die «grenzenlose» Schweizer Landschaft charakterisiert, und am Ende einen textierten Chor im konkreten Raum des Klassenzimmers. Walter Baumgartners teilweise textierter Chor in seiner Titelmusik für Oberstadtgass (1957) soll es den Zuschauern ermöglichen, sich in das Milieu des Films einzustimmen. Als Werbelied für Ernst-Teigwaren seit den 1960er-Jahren hat Tibor Kasics einen Chor geschrieben, der zum Mitsingen animieren und dabei ein Produkt sympathisch machen sollte. Der lateinisch textierte Chor von Adrian Frutiger in Sennentuntschi (2010) schafft dagegen mit «fremden» Stimmen eine Atmosphäre des Unheimlichen. (Autor: Mathias Spohr)

Literatur

  • Mathias Spohr: «Filmmusik», in: Daniel Brandenburg, Rainer Franke, Anno Mungen (Hg.): Das Wagner-Lexikon, Laaber: Laaber 2012, S. 217–219. ISBN 978-3890075501
  • Susanne Maas: Chöre im Spielfilm, Berlin: Lit 2014. ISBN 978-3-643-12600-9

Weblinks