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Der Beigeschmack von Übertreibung im Begriff des Melodramatischen stammt daher, dass damit eine deutlich zeigende Darstellungsweise gemeint ist: Wenn eine Figur traurig oder böse ist und dabei «melodramatisch» Tränen vergiesst oder mit den Augen rollt, werden diese Emotionen von den Schauspieler*innen unter Umständen nicht gelebt, sondern «nur» gezeigt. Kostüme, Maskenbild, Beleuchtung, Kameraführung können zu diesem Zeigen beitragen, wie etwa ein weisses Kostüm für gut und ein schwarzes für böse. Diese Bedeutungen sind äusserlich, das heisst, sie sind aus einem Beobachterraum heraus den Aktionen hinzugefügt, um dem Publikum ein Verständnis zu erleichtern oder aufzudrängen. Die Figuren «sind» nicht gut oder böse, sondern es wird mit Farben gezeigt, dass sie als gut oder böse verstanden werden sollen. Durch diese Vermittlungstechnik entsteht eine Trennung zwischen Sein und Zeigen, zwischen Aktion und Beobachtung oder zwischen Diegese und Extradiegese. Das Zeigen wird vom Publikum mitvollzogen, aber oft nicht bewusst wahrgenommen.
 
Der Beigeschmack von Übertreibung im Begriff des Melodramatischen stammt daher, dass damit eine deutlich zeigende Darstellungsweise gemeint ist: Wenn eine Figur traurig oder böse ist und dabei «melodramatisch» Tränen vergiesst oder mit den Augen rollt, werden diese Emotionen von den Schauspieler*innen unter Umständen nicht gelebt, sondern «nur» gezeigt. Kostüme, Maskenbild, Beleuchtung, Kameraführung können zu diesem Zeigen beitragen, wie etwa ein weisses Kostüm für gut und ein schwarzes für böse. Diese Bedeutungen sind äusserlich, das heisst, sie sind aus einem Beobachterraum heraus den Aktionen hinzugefügt, um dem Publikum ein Verständnis zu erleichtern oder aufzudrängen. Die Figuren «sind» nicht gut oder böse, sondern es wird mit Farben gezeigt, dass sie als gut oder böse verstanden werden sollen. Durch diese Vermittlungstechnik entsteht eine Trennung zwischen Sein und Zeigen, zwischen Aktion und Beobachtung oder zwischen Diegese und Extradiegese. Das Zeigen wird vom Publikum mitvollzogen, aber oft nicht bewusst wahrgenommen.
  
Eine Musik, die Traurigkeit oder Zorn ausdrückt, kann auf solche Emotionen zeigen, ohne dass die Darsteller übertrieben gestikulieren oder melodramatisch sprechen müssten (siehe [[Polarisierung]]). Sie vermittelt den Zuschauern, «wie» sie das Gesehene oder Gehörte verstehen sollen, ähnlich wie eine Regieanweisung in einem Rollentext. Die Zuschauer sehen sich in Filmfiguren oder Erzählern gespiegelt und erleben die Gefühle gemeinsam mit ihnen: «Ich bin im Kopf drin und sehe auf den Kopf drauf.» Die Spiegelung erzeugt den Eindruck der Einfühlung.
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Eine Musik, die Traurigkeit oder Zorn ausdrückt, kann auf solche Emotionen zeigen, ohne dass die Darsteller melodramatisch gestikulieren oder sprechen müssten (siehe [[Polarisierung]]). Sie vermittelt den Zuschauern, «wie» sie das Gesehene oder Gehörte verstehen sollen, ähnlich wie eine Regieanweisung in einem Rollentext. Die Zuschauer sehen sich in Filmfiguren oder Erzählern gespiegelt und erleben die Gefühle gemeinsam mit ihnen: «Ich bin im Kopf drin und sehe auf den Kopf drauf.» Die Spiegelung erzeugt den Eindruck der Einfühlung.
  
 
Dieses Bewusstsein war in einer neuen bürgerlichen Lebensauffassung seit dem späten 18. Jahrhundert wichtig, bei der Mitgefühl und eine gelebte Gleichberechtigung betont wurden. Die Verinnerlichung der von Beobachtern bestimmten Charakteristiken ist zunehmend kritisiert worden (Butler 2007). Weil die melodramatische Verinnerlichung auch mit Tieren, Puppen, Robotern oder Animationsfiguren funktioniert, wird Melodramatik oft belächelt.
 
Dieses Bewusstsein war in einer neuen bürgerlichen Lebensauffassung seit dem späten 18. Jahrhundert wichtig, bei der Mitgefühl und eine gelebte Gleichberechtigung betont wurden. Die Verinnerlichung der von Beobachtern bestimmten Charakteristiken ist zunehmend kritisiert worden (Butler 2007). Weil die melodramatische Verinnerlichung auch mit Tieren, Puppen, Robotern oder Animationsfiguren funktioniert, wird Melodramatik oft belächelt.

Revision as of 13:21, 2 April 2023

Das Melodram ist ein Filmgenre und vor der Filmgeschichte eine Gattung des Theaters. Sowohl im Theater des 19. Jahrhunderts als auch im Film seit dem 20. Jahrhundert spielt Musik darin eine wichtige Rolle. «Melodramatische» Musik ist nicht-diegetische Musik zu Sprache oder Bildern, die Stimmungen erzeugt. Melodramatik ist also auch eine Vermittlungstechnik.

Die meisten Stoffe des Theatermelodrams, wie Abenteuer- oder Kriminalgeschichten, sind auf Filmgenres übergegangen und nur noch selten im Theater zu sehen. In der Filmgeschichte spricht man von Melodramen, wenn statt turbulenter Handlungen seelische Konflikte im Vordergrund stehen. Musik spiegelt dabei die Innerlichkeit von Filmfiguren.

Übertreibung und Verinnerlichung

Der Beigeschmack von Übertreibung im Begriff des Melodramatischen stammt daher, dass damit eine deutlich zeigende Darstellungsweise gemeint ist: Wenn eine Figur traurig oder böse ist und dabei «melodramatisch» Tränen vergiesst oder mit den Augen rollt, werden diese Emotionen von den Schauspieler*innen unter Umständen nicht gelebt, sondern «nur» gezeigt. Kostüme, Maskenbild, Beleuchtung, Kameraführung können zu diesem Zeigen beitragen, wie etwa ein weisses Kostüm für gut und ein schwarzes für böse. Diese Bedeutungen sind äusserlich, das heisst, sie sind aus einem Beobachterraum heraus den Aktionen hinzugefügt, um dem Publikum ein Verständnis zu erleichtern oder aufzudrängen. Die Figuren «sind» nicht gut oder böse, sondern es wird mit Farben gezeigt, dass sie als gut oder böse verstanden werden sollen. Durch diese Vermittlungstechnik entsteht eine Trennung zwischen Sein und Zeigen, zwischen Aktion und Beobachtung oder zwischen Diegese und Extradiegese. Das Zeigen wird vom Publikum mitvollzogen, aber oft nicht bewusst wahrgenommen.

Eine Musik, die Traurigkeit oder Zorn ausdrückt, kann auf solche Emotionen zeigen, ohne dass die Darsteller melodramatisch gestikulieren oder sprechen müssten (siehe Polarisierung). Sie vermittelt den Zuschauern, «wie» sie das Gesehene oder Gehörte verstehen sollen, ähnlich wie eine Regieanweisung in einem Rollentext. Die Zuschauer sehen sich in Filmfiguren oder Erzählern gespiegelt und erleben die Gefühle gemeinsam mit ihnen: «Ich bin im Kopf drin und sehe auf den Kopf drauf.» Die Spiegelung erzeugt den Eindruck der Einfühlung.

Dieses Bewusstsein war in einer neuen bürgerlichen Lebensauffassung seit dem späten 18. Jahrhundert wichtig, bei der Mitgefühl und eine gelebte Gleichberechtigung betont wurden. Die Verinnerlichung der von Beobachtern bestimmten Charakteristiken ist zunehmend kritisiert worden (Butler 2007). Weil die melodramatische Verinnerlichung auch mit Tieren, Puppen, Robotern oder Animationsfiguren funktioniert, wird Melodramatik oft belächelt.

Geschichte

Melodramatische Filmmusik hat eine Vorgeschichte in theatralischen Experimenten seit dem 18. Jahrhundert und auf den grossen Bühnen seit dem frühen 19. Jahrhundert. Weil aber Schauspiel-Bühnenmusiken selten erhalten sind, kann man diese Art Musik fast nur noch in Konzertmelodramen, Programmsinfonien, Konzertsuiten aus Theatermusik oder Passagen aus Opern wiederfinden.

Die Melodrammusik auf den grossen Pariser Bühnen bestand aus Liedern und Tänzen, die nicht notwendig mit Gesang und Tanz auf der Bühne koordiniert waren, sondern ein imaginäres Singen und Tanzen des Publikums begleiten sollten (Spohr 1999). Im Theater musste das nicht imaginär bleiben wie bei den Tanz- und Liedsätzen der Sonaten und Sinfonien im bürgerlichen Konzert: In den kleineren Vaudeville-Theatern konnte es ein lautes Mitsingen sein.

Stummfilmmusik ist in wesentlichen Teilen melodramatisch. Im Allgemeinen Handbuch der Filmmusik (Erdmann 1927) ist sie unter dem Schlagwort «dramatische und lyrische Expression» eingeordnet.

Der Tonfilm versuchte in seiner ersten Zeit, sich vom Stummfilm und seinen musikalischen Theatertraditionen abzuheben, aber der Publikumserfolg bahnte der mittlerweile aufgezeichneten melodramatischen Filmmusik in den 1930er-Jahren den Weg. Melodramatische Musik ist ein Bestandteil des Underscoring.

Schweizer Filmmusik

Der Komponist Joachim Raff (1822–1882) ist als ein Vorläufer der Filmmusik hervorgehoben worden (Smith 2002, S. 298). Bernard Herrmann hat seine Sinfonien dirigiert.

Die Musik von Jean Binet etwa zu Jim et Jo détectives (Jean Brocher 1943) hat noch etwas von melodramatischer Stummfilmmusik. Arthur Honegger erzeugte mit dem elektronischen Musikinstrument Ondes Martenot Mitgefühl für die allegorische Figur der Idee im Animationsfilm L’Idée (Berthold Bartosch 1934): Die «rührende Stimme der stummen Figur», die allegorische (allgemeingültige) Funktion dieser Figur und die Instrumentalstimme als künstliches Vorbild der Menschenstimme begegnen sich hier als melodramatische Traditionen. Eine interessante, zeitweilig verbreitete Art der Melodramatik zeigt der Auftragsfilm Mitenand gahts besser! (Adolf Forter 1949): Der gereimte Kommentar könnte zur Filmmusik von Werner Kruse gesungen werden, wie es etwa bei Connaissez-vous ça? (1956) der Fall ist. Weil hier jedoch frei gesprochen wird, wirken die musikalisch vermittelten Emotionen weniger bewusst und ernsthafter.

Viele Filmmusiken von Robert Blum sind im klassischen Sinne melodramatisch, wie etwa zu Uli der Knecht (Franz Schnyder 1954). Julien-François Zbinden verweigerte dem Regisseur Henry Brandt erfolgreich ein melodramatisches Eingehen auf die Figur des Kindes in La course au bonheur (1964). Louis Crelier hat zu Filmen von Denis Rabaglia wie Azzurro (2000) wiederum melodramatische Musik geschaffen. (Autor: Mathias Spohr)

Literatur

  • Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, London: Routledge 2007. ISBN 978-0-415-38955-6
  • Erdmann, Hans, Giuseppe Becce, Ludwig Brav: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Berlin 1927.
  • Koebner, Thomas: «Musik zum Abschied. Zur Komposition von Melodramen», in: Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft, 35:2004 Film und Musik, S. 46–68, siehe Weblink.
  • Smith, Steven C.: A Heart at Fire’s Center: The Life and Music of Bernard Herrmann, Berkeley, Los Angeles: Univ. of California Press 2002. ISBN 0-520-22939-8
  • Spohr, Mathias: «Medien, Melodramen und ihr Einfluss auf Richard Wagner», in: Christoph Hellmut Mahling, Kristina Pfarr (Hg.): Richard Wagner und seine «Lehrmeister», Mainz: Are 1999, S. 49–80. ISBN 978-3-924522-03-2
  • Spohr, Mathias: «Melodrama – Technische Medien, stumme Figuren und die Illusion des “Ausdrucks”», in: Claudia Jeschke, Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin: Vorwerk 2000, S. 258–73. ISBN 978-3930916221

Weblinks