Melodram

Das Melodram ist ein Filmgenre und vor der Filmgeschichte eine Gattung des Theaters. Sowohl im Theater des 19. Jahrhunderts als auch im Film seit dem 20. Jahrhundert spielt Musik darin eine wichtige Rolle. «Melodramatische» Musik ist nicht-diegetische Musik zu Sprache oder Bildern, die Stimmungen erzeugt.

Melodramatik ist also auch eine Vermittlungstechnik. Es ist die einfachste Form einer «humanitär» verstandenen Ausdrucksästhetik und ihr wunder Punkt, weil sie deren Widersprüche deutlich macht. Anders ausgedrückt: Die umgangssprachliche Bedeutung «Übertriebene Gefühle sollen zeigen, dass etwas gerecht oder ungerecht ist.» ist als generelle Definition des Melodramatischen nicht abwegig.

Die meisten Stoffe des Theatermelodrams, wie Abenteuer- oder Kriminalgeschichten, sind auf Filmgenres übergegangen und nur noch selten im Theater zu sehen. In der Filmgeschichte spricht man von Melodramen, wenn statt turbulenter Handlungen seelische Konflikte im Vordergrund stehen. Musik spiegelt dabei die Innerlichkeit von Filmfiguren.

Übertreibung und Verinnerlichung

Der Beigeschmack von Übertreibung im Begriff des Melodramatischen stammt daher, dass damit eine deutlich zeigende Darstellungsweise gemeint ist: Wenn eine Figur traurig oder böse ist und dabei «melodramatisch» Tränen vergiesst oder mit den Augen rollt, werden diese Emotionen von den Schauspieler*innen unter Umständen nicht gelebt, sondern «nur» gezeigt.

Heute wird Melodramatik als unprofessionelle Schauspielkunst betrachtet. Im privaten und öffentlichen Leben ist sie nach wie vor verbreitet und meist mit dem Anspruch verbunden, dass die propagierte Sichtweise wahr und gerecht sei und von einem Publikum übernommen werden müsse. In politischen Berichterstattungen dient der Vergleich mit Instrumentalmusik oft zur Charakterisierung eines Ausdrucks, der einer Sichtweise Nachdruck verleihen soll («Flötentöne/Paukenschlag im Parlament»).

Sein und Zeigen

Kostüme, Maskenbild, Beleuchtung, Kameraführung können zu einem melodramatischen Zeigen beitragen, wie etwa ein weisses Kostüm für gut und ein schwarzes für böse (Brooks 1976). Diese Bedeutungen sind äusserlich, das heisst, sie sind aus einem Beobachterraum heraus den Aktionen hinzugefügt, um dem Publikum ein Verständnis zu erleichtern oder aufzudrängen. Die Figuren «sind» nicht gut oder böse, sondern es wird mit Farben gezeigt, dass sie als gut oder böse verstanden werden sollen. Die Übertreibung suggeriert ein klares Erkennen, als wäre sie ein Beweis. Erkennbarkeit und Wirklichkeit erscheinen eng verbunden.

Durch diese Vermittlungstechnik entsteht eine Trennung zwischen Sein («So ist es.») und Zeigen («So soll es verstanden werden.»), zwischen Aktion und Beobachtung oder zwischen Diegese und Extradiegese. Das Zeigen wird vom Publikum mitvollzogen, es schafft eine gemeinsame Perspektive so wie die sprichwörtliche «rosarote Brille» und wird oft nicht bewusst wahrgenommen. Es scheint dann nicht zu täuschen wie die rosarote Brille, sondern zu entlarven. Oft wirkt die Diegese chaotisch, sodass die extradiegetischen Signale als Verstehenshilfe willkommen sind. Sie sagen dem Publikum: «Das ist eine Handlungsmöglichkeit für euch!»

Eine Musik, die Traurigkeit oder Zorn ausdrückt, kann auf solche Emotionen zeigen, ohne dass die Darsteller melodramatisch gestikulieren oder opernhaft singen müssten (siehe Polarisierung). Sie vermittelt den Zuschauern, «wie» sie das Gesehene oder Gehörte verstehen sollen, ähnlich wie eine Regieanweisung in einem Rollentext. Die Zuschauer sehen sich in Filmfiguren oder Erzählern gespiegelt und erleben die Gefühle gemeinsam mit ihnen: «Ich bin im Kopf drin und sehe auf den Kopf drauf.» (Das ist in Wirklichkeit nur beim Blick in den Spiegel der Fall.)

Von traditionellen Moralvorstellungen zur Objektivität einer Öffentlichkeit

Das Bewusstsein einer Beobachterperspektive als Ich-Perspektive war in einer neuen bürgerlichen Lebensauffassung seit dem späten 18. Jahrhundert wichtig, bei der Mitgefühl und eine gelebte Gleichberechtigung betont wurden, oft im Blick auf Benachteiligte, die sich selbst nicht äussern können und als «stumme Figuren» auf den Theaterbühnen beliebt waren. Diese Figuren schienen das Publikum um seine Stimme zu bitten, in der Hoffnung auf die Objektivität und Gerechtigkeit einer Öffentlichkeit. Seit der Relativierung traditioneller Werte sollte das Urteil einer Öffentlichkeit gelten. Angehörige des Adels und der Kirche erscheinen im Theatermelodram oft als Bösewichter.

Manchmal schienen die Ermittlungen von Detektiven oder Gerichtsverhandlungen zu dieser Objektivität zu führen. Im Film Les enfants du paradis (Marcel Carné 1945) zeigt ein Pantomimendarsteller zu melodramatischer Musik von Joseph Kosma unzweifelhaft, wie ein Diebstahl sich zugetragen hat. Was die Pantomime zeigt, ist nicht bloss Nachahmung wie bei einer Erzählung, sondern Ausdruck von Wirklichkeit, so wie der unbestechliche Blick einer Kamera. Wenn man die Kamera «ist» und nicht bloss auf Bildschirme blickt, sieht man keine Nachahmungen mehr, sondern Wirklichkeit. Es kommt also auf die Identifikation mit dem Medium an. Pantomime und melodramatische Musik werden als Spuren verstanden, die nicht lügen, sondern entlarven.

Von der Lüge der Nachahmung zur Wahrheit des Ausdrucks

Musik konnte sich im 18. Jahrhundert früher als die bildenden Künste vom Anspruch oder Vorwurf lösen, etwas nachahmen zu müssen oder lediglich nachahmen zu können. Eine barocke Nachahmungsästhetik wandelte sich zu einer modernen Ausdrucksästhetik. Sobald eine musikalische Seufzerfigur, die einen Seufzer oberflächlich, aber erkennbar nachahmt, emotional erlebt werden soll, liegt die Verantwortung für die Herstellung dieser Wirklichkeit bei ihren Interpreten und Hörern. Das distanzierte Bedeuten der Allegorie wird gefühlsintensiv. Der Ausdruck einer gemeinsamen Empfindung (Extradiegese) schien als neue Wirklichkeit die Tatsache zu besiegen, dass alles in der Kunst nur Nachahmung (Diegese) ist. Auch die Diegese wird durch Filmbilder und Filmtöne nur nachgeahmt. Der Slapstick als modernes und noch klareres Beispiel ahmt nicht nur ein Geräusch nach, sondern zeigt auf etwas Lustiges. Das zeigende Medium behauptet: «Was ich zeige, ist wahr – nicht als Nachahmung, sondern als Erlebnis.»

Die individuelle Verinnerlichung der überdeutlichen Charakteristiken ist zunehmend kritisiert worden (Butler 2007): Das Zeigen wird zum Sein erklärt, und die Betroffenen werden übergangen. Z. B. bedeutet rosarote Farbe weiblich, also ist ein Säugling mit rosa Schleife weiblich, mit spezifischen Erwartungen an Weiblichkeit, die von einer Erwachsenen nicht unbedingt als Freiheiten verstanden werden. Oder die französische Nationalhymne zu einer im Bild gezeigten Figur bedeutet: Das «ist» ein Franzose. Das Nichtdiegetische wird in die Diegese hineingedeutet.

Weil die melodramatische Verinnerlichung auch mit Tieren, Puppen, Robotern oder Animationsfiguren funktioniert, die sich nicht wehren können oder kein Innenleben haben, wird Melodramatik oft belächelt. Jede Existenz, die sie zu haben scheinen, wird von Beobachtern in sie hineingespiegelt. In diesen Fällen ist die «stumme Figur» bloss ein Bild oder Buchstabe, die durch Lesen animiert und durch Mitgefühl eines Publikums scheinbar befreit werden. Ihre hilflose Lesbarkeit schafft Vertrauen. Ihre scheinbar entlarvte Wahrheit, die ihnen scheinbar Gerechtigkeit widerfahren lässt, ist von Beobachtern erfunden. Das «arme unbewegliche Bild» hat dabei einen ähnlichen Stellenwert wie die «arme textlose Melodie».

Der gelesene Buchstabe (Extradiegese) wird mit der gelesenen Spur (Diegese) verwechselt: Dem Buchstaben fehlt die Beweiskraft der Spur, und der Spur fehlt die Realisierbarkeit des Buchstabens. Daraus entsteht der Wunsch nach ihrer Verbindung: Der Slapstick scheint als Geräusch eine Spur zu sein und als Ausdrucksinstrument eine realisierbare Bedeutung zu haben.

Geschichte

Melodramatische Filmmusik hat eine Vorgeschichte in theatralischen Experimenten seit dem 18. Jahrhundert und auf den grossen Bühnen seit dem frühen 19. Jahrhundert. Weil aber Schauspiel-Bühnenmusiken selten erhalten sind, kann man diese Art Musik fast nur noch in Konzertmelodramen, Programmsinfonien, Konzertsuiten aus Theatermusik oder Passagen aus Opern wiederfinden.

Die Melodrammusik auf den grossen Pariser Bühnen bestand aus Liedern und Tänzen, die nicht notwendig mit Gesang und Tanz auf der Bühne koordiniert waren, sondern ein imaginäres Singen und Tanzen des Publikums begleiten sollten (Spohr 1999). Den Beobachtern wurde signalisiert, dass sie die eigentlichen Akteure seien. Die Musik sollte nicht distanziert gehört werden, sondern war eine Aufforderung zum Mitmachen.

Im Theater musste das nicht imaginär bleiben wie bei den Tanz- und Liedsätzen der Sonaten und Sinfonien im bürgerlichen Konzert: In den kleineren Vaudeville-Theatern konnte es ein lautes Mitsingen, Mitklatschen oder auch ein Mittanzen sein. Diese Koordination wirkt naiv, weil sie nicht unbedingt als Überzeugung dasteht. Eine «ernsthafte» Melodramatik vermeidet die offensichtlichen Synchronisationen ebenso wie das klassische Konzert. Diegese und Extradiegese erscheinen nicht wie Ursache und Wirkung verbunden, sondern wie Text und Interpretation. Es scheint eine Beziehung zwischen ihnen zu geben, die sich nicht in einer mechanischen Koppelung erschöpft. Wenn im Film zur melodramatischen Musik gesungen oder getanzt würde, dann wären diese Aktionen so extradiegetisch wie in der Oper.

Stummfilmmusik ist in wesentlichen Teilen melodramatisch. Im Allgemeinen Handbuch der Filmmusik (Erdmann 1927) ist sie unter dem Schlagwort «dramatische und lyrische Expression» eingeordnet.

Der Tonfilm versuchte in seiner ersten Zeit, sich vom Stummfilm und seinen musikalischen Theatertraditionen abzuheben, aber der Publikumserfolg bahnte der mittlerweile aufgezeichneten melodramatischen Filmmusik in den 1930er-Jahren den Weg. Melodramatische Musik ist ein Bestandteil des Underscoring.

Das Musikinstrument, auch wenn sein Einsatz in atmosphärischen Klängen mittlerweile abgenommen hat, ist nach wie vor als Ersatz für die fehlende Menschenstimme und als Platzhalter für die Stimme der Zuschauerin oder des Zuschauers von Bedeutung: Im Auschwitz-Film The Zone of Interest (Jonathan Glazer 2023) dient ein diegetisches Klavier dazu, die Liedmelodie eines Lagerinsassen zu spielen, deren Text extradiegetisch als Untertitel zu lesen ist, also von den Zuschauern imaginär gesungen werden kann.

Schweizer Filmmusik

Der Komponist Joachim Raff (1822–1882) ist als ein Vorläufer der Filmmusik hervorgehoben worden (Smith 2002, S. 298). Bernard Herrmann hat seine Sinfonien dirigiert.

Arthur Honegger erzeugte mit dem elektronischen Musikinstrument Ondes Martenot Mitgefühl für die allegorische Figur der Idee im Animationsfilm L’Idée (Berthold Bartosch 1934): Die «rührende Stimme der stummen Figur», die allegorische (allgemeingültige) Funktion dieser Figur und die Instrumentalstimme als künstliches und textloses Vorbild der Menschenstimme begegnen sich hier als melodramatische Traditionen. Die Allegorie, die nach älterer Vorstellung eine unbeholfene Verallgemeinerung ist, wird durch musikalischen Ausdruck zu der plausiblen Überzeugung eines Publikums gemacht, dass Ideen Unterstützung verdienen. Die Instrumentalstimme mit ihrem unüberwindlichen Manko der Textlosigkeit ist kein Ersatz für eine Menschenstimme, sondern sie ist im Gegenteil eine vorbildliche Stimme mit dem Anspruch, von ihren Hörern belebt und beredt zu werden wie die Idee als Animationsfigur.

Die Musik von Jean Binet etwa zu Jim et Jo détectives (Jean Brocher 1943) hat noch etwas von melodramatischer Stummfilmmusik, die hier mit dem chorisch realisierten Kommentar eines «Filmerklärers» verbunden ist, wie es ihn in der ersten Zeit des Stummfilms gab.

Eine interessante, zeitweilig verbreitete Art der Melodramatik zeigt der Auftragsfilm Mitenand gahts besser! (Adolf Forter 1949): Der gereimte Kommentar könnte zur Filmmusik von Werner Kruse gesungen werden, wie es etwa bei Connaissez-vous ça? (1956) der Fall ist. Weil hier jedoch frei gesprochen wird, wirken die musikalisch vermittelten Emotionen weniger bewusst und ernsthafter. Die Vermeidung einer Synchronisation von Melodie und (Gesangs-)Text oder von Musik und Bild lässt ihre Unterscheidung und damit ihre melodramatische Verbindung hervortreten.

Viele Filmmusiken von Robert Blum sind im klassischen Sinne melodramatisch, wie etwa zu Uli der Knecht (Franz Schnyder 1954). Seine Hintergrundmusik zur Liebesszene zwischen Jakobli und Meyeli in Anne Bäbi Jowäger I (Franz Schnyder 1960) animiert die Zuschauer zu imaginären Volkstänzen.

Julien-François Zbinden verweigerte dem Regisseur Henry Brandt erfolgreich ein melodramatisches Eingehen auf die Figur des Kindes in La course au bonheur (1964): Die Schrift auf den Filmbildern versetzt die Zuschauer bereits in die Rolle des Kindes; eine melodramatische Musik würde dieses Prinzip verdoppeln. Louis Crelier hat zu Filmen von Denis Rabaglia wie Azzurro (2000) wiederum melodramatische Musik geschaffen.

Im Film Ala Kachuu (Maria Brendle 2020) zeigt die Musik von Martin Skalsky in melodramatischer Tradition Solidarität mit der Hauptfigur, aber die Frage bleibt offen, ob die beobachtete Kultur in genügendem Mass verstanden wird oder ob ihr westliche Vorstellungen vielmehr aufgedrängt werden. Das Verlangen nach Objektivität und Gerechtigkeit kann mit Zumutungen verbunden sein. (Autor: Mathias Spohr)

Literatur

  • Brooks, Peter: The Melodramatic Imagination – Balzac, Henry James, Melodrama and the Mode of Excess, London: Yale Univ. Press 1976, reprint 1995. ISBN 978-0-300065-53-4
  • Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, London: Routledge 2007. ISBN 978-0-415-38955-6
  • Erdmann, Hans, Giuseppe Becce, Ludwig Brav: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Berlin 1927.
  • Koebner, Thomas: «Musik zum Abschied. Zur Komposition von Melodramen», in: Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft, 35:2004 Film und Musik, S. 46–68, siehe Weblink.
  • Smith, Steven C.: A Heart at Fire’s Center: The Life and Music of Bernard Herrmann, Berkeley, Los Angeles: Univ. of California Press 2002. ISBN 0-520-22939-8
  • Spohr, Mathias: «Medien, Melodramen und ihr Einfluss auf Richard Wagner», in: Christoph Hellmut Mahling, Kristina Pfarr (Hg.): Richard Wagner und seine «Lehrmeister», Mainz: Are 1999, S. 49–80. ISBN 978-3-924522-03-2
  • Spohr, Mathias: «Melodrama – Technische Medien, stumme Figuren und die Illusion des ‹Ausdrucks›», in: Claudia Jeschke, Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin: Vorwerk 2000, S. 258–73. ISBN 978-3930916221
  • Zimmermann, Anja: Ästhetik der Objektivität. Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2009. ISBN 978-3-8394-0860-5

Weblinks