Orientierungslaut

Orientierungslaut ist ein Begriff, den die Filmwissenschaftlerin Barbara Flückiger in Anlehnung an den Begriff sound mark von R. Murray Schafer (Schafer 1977) gebildet hat. Er bietet eine Verständnishilfe für Entwicklungen vor allem seit den 1980er-Jahren, die zu einer Verschmelzung von Filmmusik und Sounddesign geführt haben.

Orientierungslaute können zum Dialog, zum Geräusch oder zur Musik (oder zu allen dreien) gehören und sowohl diegetisch als auch extradiegetisch sein.

Geschichte

Der Mehrkanalton und die verbesserte Tonqualität aufgrund der Digitalisierung haben dazu geführt, dass mit dem Filmton differenzierter umgegangen werden kann als Mitte des 20. Jahrhunderts und sich «klassische» Aufgaben der Filmmusik gewandelt haben. Während die Stummfilmmusik und die frühe Tonfilmmusik in der Tradition der Couleur locale aus der Oper des 19. Jahrhunderts Räume und Zeiten mit leicht verständlichen Zeichen wie Nationalhymnen, Kirchen- oder Jahrmarktsmusik charakterisierten, kann der Filmton mittlerweile subtiler vorgehen.

Charakterisierung von Schauplätzen, die zum Underscoring gehört, setzt sich beim Filmton traditionell aus einem musikalischen «Zeigen» (so soll es verstanden werden) und einem geräuschhaften «Sein» (so ist es) zusammen (siehe Melodram). Beides wurde auf getrennten, erst bei der Mischung zusammengeführten Tonbändern aufgezeichnet. Musik konnte allerdings diegetisch sein, indem sie scheinbar zur Welt der Handlung gehörte, und Geräusch konnte umgekehrt gar nicht realistisch sein, sondern charakterisieren, wie etwa die Autotür eines Kriminalkommissars, die vom Geräuschemacher mit immer demselben Klanggerät nachvertont wird, das kaum Ähnlichkeit mit einer Autotür hat (Flückiger nennt das Priming, siehe Flückiger 2005, 148). In beiden Fällen handelt es sich um Orientierungslaute, und in beiden Fällen wird mit Illusionen gespielt, gerade dann, wenn es sich, wie beim Auto des Kommissars, um eine betont nüchterne Realität handeln soll.

Eine verbesserte Tonqualität liess die Forderung nach klarer Unterscheidbarkeit der Orientierungslaute zurücktreten und bot neue erzählerische Möglichkeiten. Eine Unterscheidung in Orientierungslaute, die der Erfahrung der Zuschauer und Hörer entsprechen, und Orientierungslaute, die für einen wiederholten filmischen Zusammenhang neu geschaffen werden, ist methodisch sinnvoll; meist handelt es sich jedoch um eine Mischung beider Möglichkeiten.

Schweizer Filmmusik

Die Charakterisierung des Schauplatzes Schweiz hat sich von der Couleur locale wie bei Robert Blums Filmmusik (Heidi und Peter 1955, Anne Bäbi Jowäger I 1960) zu Orientierungslauten gewandelt, die in einer imaginären Mitte zwischen Dialog, Geräusch und Musik stehen: Die Klänge von Mario Beretta und Florian Eidenbenz zu Höhenfeuer (Fredi M. Murer 1985), von Ben Jeger zu Das vergessene Tal (Clemens Klopfenstein 1991) oder von Jean Philippe Héritier zu La grande peur dans la montagne (Claudio Tonetti 2006) stellen Beispiele dafür dar.

Bei Dokumentarfilmen bildet der vorausgesetzte Gegensatz zwischen Realität und Erzählung eine Herausforderung. Ein komplexes Labyrinth von Orientierungslauten kreierte Marcel Vaid zum Beispiel für The Substance: Albert Hofmann’s LSD (Martin Witz 2011) sowie für Chris the Swiss (Anja Kofmel 2018), in der die Bedrohung der Hauptfigur durch Klänge dargestellt wird, die an Insektenschwärme erinnern.

Der Klang eines Kugelstosspendels wird im Film Jagdzeit (Sabine Boss 2020) von Michael Künstle zu einem nur bedingt realistischen Orientierungslaut gemacht (Autor: Mathias Spohr).

Literatur

  • Flückiger, Barbara: «Narrative Funktionen des Filmsounddesigns: Orientierung, Setting, Szenographie», in: Harro Segeberg, Frank Schätzlein: Sound: zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg: Schüren 2005, S. 140-156.
  • Murray Schafer, Raymond: The Soundscape, New York: Knopf 1977. plzm.d6ab8875-72df-4dac-930e-6a6d9ec16e3a?.gif